Gunnar Drucklieb • 11. März 2025

Der Nebel – Zwischen Sein und Nichtsein

Der Nebel ist eines der flüchtigsten Phänomene der Natur. Er ist da, und doch scheint er nicht wirklich zu sein. Er verhüllt die Welt, aber verändert sie nicht. Er trennt, aber ohne Wände zu errichten. Er ist ein Zustand des Dazwischen – zwischen Tag und Nacht, zwischen Klarheit und Verlorensein, zwischen Wissen und Vergessen.


Wenn der Nebel sich erhebt, verlieren wir die gewohnte Orientierung. Die vertrauten Wege lösen sich auf, und selbst die nächste Biegung wird zur Ungewissheit. Doch ist es nicht gerade diese Ungewissheit, die uns zwingt, langsamer zu werden? Der Nebel beraubt uns der Sicht, aber schenkt uns eine andere Wahrnehmung: die des gegenwärtigen Augenblicks. Jede Bewegung wird vorsichtiger, jeder Schritt bewusster.


In der Philosophie steht der Nebel oft sinnbildlich für das Unbekannte – das, was sich unserem Verstand entzieht. Er erinnert uns an die Grenzen unseres Wissens, an die Fragilität dessen, was wir als Realität begreifen. In Platons Höhlengleichnis könnte der Nebel die Schatten sein, die unser Verständnis der Welt vernebeln, während wir glauben, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind.



Doch der Nebel ist nicht nur eine Metapher für Unwissenheit. Er ist auch ein Symbol für das Mögliche, für das, was noch nicht Gestalt angenommen hat. Wie eine leere Leinwand wartet er darauf, dass sich in ihm neue Formen offenbaren. Vielleicht ist es gerade die Unsichtbarkeit, die uns neue Sichtweisen schenkt. Wer im Nebel steht, ist gezwungen, mit anderen Sinnen zu sehen. Man hört auf das Knirschen der Schritte, man spürt die Feuchtigkeit auf der Haut, man riecht die erdige Frische der Welt. Der Nebel schärft die Wahrnehmung für das, was sonst übersehen wird.


Und dann, wenn er sich auflöst, bleibt eine Spur von ihm zurück – nicht in der Landschaft, sondern in uns. Ein Gefühl der Ehrfurcht, der Demut vor dem Nicht-Wissen. Vielleicht ist der Nebel nicht da, um uns zu verwirren, sondern um uns daran zu erinnern, dass es nicht immer notwendig ist, alles zu wissen. Dass es Schönheit gibt im Geheimnisvollen, in der Unklarheit, im Nebel des Lebens.

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