Gunnar Drucklieb • 24. Juli 2025

Ich bin – aber warum?

Ich bin.
Und während ich diesen Satz schreibe, spüre ich: Er ist erschütternd einfach und zugleich unbegreiflich tief. Ich bin. Drei kleine Silben – und doch enthalten sie ein ganzes Universum. Ein Kosmos von Erinnerungen, Fragen, Wegen.


Ich bin.

Und schon beginnt es zu flimmern in mir. Denn kaum habe ich mich zu diesem Satz bekannt, erhebt sich sein Schatten. Eine alte, leise Frage, die nie aufdringlich ist, aber auch nie schweigt:
Aber warum?


Warum bin ich hier, in dieser Haut, zu dieser Zeit? Warum dieses Leben, diese Form, diese Geschichte? Warum dieser Blick durch meine Augen, dieses Herz in meiner Brust, diese Träume in meinem Innersten? Warum ich – und nicht irgendjemand anders? Warum überhaupt jemand?


Ich gehe durch die Welt, berühre Dinge, hinterlasse Spuren, atme Luft, die gestern noch jemand anderem gehörte. Ich fühle. Ich liebe. Ich verliere. Ich hoffe. Ich existiere – aber der Grund bleibt im Nebel. Und vielleicht ist es genau dieser Nebel, der mich wach hält. Denn dort, wo keine einfachen Antworten warten, beginnt die eigentliche Reise.


Manchmal glaube ich, dass wir alle wie Kinder sind, die mitten in einem alten Theater aufwachen – das Stück läuft schon, das Bühnenbild steht, die anderen Spieler*innen wissen, was zu tun ist. Aber wir? Wir stehen auf und fragen: Wo bin ich hier? Was soll ich tun? Und wer – um alles in der Welt – hat mich hierhergebracht?


Diese Frage – Ich bin, aber warum? – ist keine, die beantwortet werden will wie eine Matheaufgabe. Sie ist eher eine Tür. Eine Schwelle. Ein Ruf. Sie führt nicht ins Wissen. Sie führt ins Fühlen. Ins Spüren. Ins Lauschen. Und irgendwann – ins Loslassen.


Vielleicht bin ich, weil ich träume. Oder weil jemand mich träumt. Vielleicht bin ich, weil das Universum eine Stimme suchte, die meine Form braucht, um gehört zu werden. Vielleicht bin ich das Lied eines Ahnen, das noch einmal gesungen werden will. Oder das Sehnen der Erde nach sich selbst – in Gestalt eines Menschen.


 Ich bin, das weiß ich.
Ich kann mich spüren, mit all den Schmerzen und Schönheiten, die mich durchziehen.
Ich kann lachen, weinen, hassen, hoffen – was für ein Wunder, was für ein Wahnsinn.
Ich kann sehen, wie Licht durch Blätter fällt.
Kann eine Melodie hören und plötzlich erinnert sich etwas in mir an etwas, das ich nie erlebt habe.
Ich kann lieben.
Und allein das müsste eigentlich schon Antwort genug sein.


Und doch – da bleibt sie. Die Frage. Still. Unaufdringlich. Hartnäckig. Wie der Schatten eines Vogels, der über mein Herz fliegt. Ich versuche, sie zu umarmen, statt sie zu lösen. Denn jedes Mal, wenn ich sie festnageln will, entgleitet sie mir. Vielleicht, weil sie kein Ziel hat, sondern ein Weg ist. Vielleicht ist das Warum kein Punkt – sondern ein Kreis. Ein Kreis wie im Medizinrad. Ein Werden, das nie stillsteht. Ein Tanz, bei dem der Sinn nicht im Ziel liegt, sondern in der Bewegung selbst.


 Ich bin.
Nicht weil ich es verdient habe.
Nicht weil ich besser bin als andere.
Nicht weil ich etwas zu beweisen hätte.


 Ich bin – weil ich Teil bin.
Teil eines großen, atmenden Gewebes.
Ich bin eine Stimme im Chor.
Ein Funke im Feuer.
Ein Tropfen im Ozean des Lebendigen.


Und vielleicht ist das Warum nicht zu finden, sondern zu leben. Vielleicht ist es nicht die Antwort, die wir suchen sollen, sondern die Tiefe, mit der wir fragen. Vielleicht ist jede meiner Entscheidungen eine kleine Antwort. Jede Geste der Liebe, jedes Verzeihen, jeder stille Blick auf den Sternenhimmel. Vielleicht ist das Warum nicht da draußen. Vielleicht wohnt es in meinem Mut, mein Ich zu bewohnen – mit aller Zerbrechlichkeit und aller Kraft.


Ich bin. Und ich frage. Und ich lebe. Und manchmal, in einem sehr stillen Moment, wenn der Wind durch die Bäume fährt oder das erste Licht des Tages mein Gesicht berührt, dann habe ich das Gefühl, dass das Leben mir antwortet. Nicht mit einem Satz. Nicht mit einer Erklärung. Sondern mit einem Gefühl. Mit einem leisen, zarten, umfassenden Gefühl: Du bist hier, weil du hier sein sollst. Du bist – damit etwas durch dich hindurch leuchten kann, was ohne dich nicht leuchten würde.



Und das ist – vielleicht – Antwort genug.

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