gdrucklieb • 16. April 2025

Vom Alleinsein und der Einsamkeit – Eine Ode an den heiligen Raum der Selbstbegegnung

Es gibt zwei Worte, die oft verwechselt werden, obwohl sie unterschiedlicher kaum sein könnten: allein und einsam.


Beide beschreiben einen Zustand ohne andere Menschen – aber nur oberflächlich betrachtet. Denn während die Einsamkeit ein Mangelgefühl in sich trägt, ein inneres Loch, das nach Verbindung ruft, ist das Alleinsein ein Raum der Fülle. Ein Ort der Präsenz, der Sammlung, der Rückkehr zu sich selbst.

 

Im Alleinsein kann ich mich selbst hören.


In der Einsamkeit höre ich oft nur das Echo meiner Sehnsucht nach dem Anderen.

 

Die Einsamkeit ist evtl. die Folge einer Welt, die in Dualität denkt. In einer Kultur, die Beziehung über alles stellt, die das “Wir” idealisiert und das “Ich” als defizitär empfindet, erscheint das Alleinsein schnell als Makel. Wer allein ist, muss entweder komisch, ungeliebt oder unerfüllt sein – so der Tenor vieler gesellschaftlicher Zuschreibungen. Dabei vergessen wir, dass große Denker, Mystiker und Künstler immer wieder das Alleinsein gesucht haben, um Klarheit zu finden, um Tiefe zu erreichen, um das Eigene vom Fremden zu trennen.

 

Der griechische Philosoph Plotin sprach davon, dass der Rückzug in sich selbst notwendig sei, um dem Göttlichen zu begegnen. Auch Sokrates ging, bevor er sprach, in die Stille. Nicht aus Schüchternheit. Sondern aus Achtung vor dem, was durch ihn sprechen wollte.

 

Etwas tiefer betrachtet, ist das Alleinsein ein heiliger Zustand. In der Abwesenheit der Welt kann das Selbst sich offenbaren. Es ist wie das Zurückziehen des Nebels – darunter erscheint das eigentliche Land. Wer allein ist, ohne einsam zu sein, lebt in einem inneren Kloster. Einem Tempel, der weder Mauern noch Priester braucht. Es ist der Ort, an dem die Seele spricht, wenn der Lärm der Welt verstummt ist.

 

Doch die Einsamkeit… Sie ist anders. Einsamkeit kann weh tun. Sie ist die Leere, in der keine Stimme mehr zu hören ist – nicht die der anderen, aber oft auch nicht die eigene. Es ist ein Vakuum. Und genau dort liegt der Schmerz: In der Abwesenheit der Verbindung. Die Einsamkeit ist nicht die Abwesenheit von Menschen. Sie ist die Abwesenheit von Resonanz. Von Gesehenwerden. Von Berührung.

 

Und trotzdem liegt auch in der Einsamkeit eine Einladung – wenn auch eine unbequeme. Sie ist nicht nur das dumpfe Gefühl der Trennung, sie ist auch ein Leuchtfeuer. Sie zeigt, dass etwas in uns nach Berührung, nach echter Verbindung ruft – nicht nur zu anderen, sondern vor allem zu uns selbst.

 

Denn die Einsamkeit macht den Mangel sichtbar. Sie deckt auf, wo wir uns selbst verlassen haben. Sie konfrontiert uns mit der Frage: Bin ich mir selbst genug? Kenne ich mich überhaupt – oder bin ich nur eine Reaktion auf das Außen? In der Einsamkeit kann ich, wenn ich den Mut finde, hinschauen. Ich kann mich fragen: Was fehlt mir wirklich? Und wo suche ich vielleicht im Außen etwas, das nur im Inneren heilen kann?

 

So wird die Einsamkeit zur Chance. Nicht sofort. Sie tut weh, sie kratzt an alten Wunden, sie schreit nach Flucht. Doch wer stehen bleibt, wer fühlt statt flieht, entdeckt unter dem Schmerz einen Schatz: Die Möglichkeit, sich selbst wiederzufinden. Die Möglichkeit, sich dem eigenen inneren Kind zuzuwenden, das einst gelernt hat, dass es alleine nicht sicher ist. Und die Möglichkeit, diesen Anteil liebevoll in den Arm zu nehmen.

 

Die Einsamkeit ist kein Feind. Sie ist ein Bote. Ein Prüfstein. Und manchmal ein Lehrer mit harter Stimme, aber tiefem Herzen. Denn auch sie führt – wie das Alleinsein – zurück zu dir. Nur über einen anderen Weg. Einen schmerzhafteren vielleicht. Aber auch einen transformierenden. Wer sich seiner Einsamkeit stellt, statt sie zu betäuben, wird beschenkt. Mit Klarheit. Mit Wahrheit. Und mit einem neuen Zugang zu sich selbst.

 

Es gibt natürlich auch eine schamanische Betrachtung, ist ja auch ein schamanischer Blog! In der Schamanischen Sichtweise ist das Alleinsein eine Schwelle. Viele Initiationen – sei es die Visionssuche, die Reise in die Anderswelt oder das Fasten in der Wildnis – verlangen das Alleinsein. Denn in der Stille zeigt sich oft der innere Schatten. Der Dämon, den man sonst durch Ablenkung meidet. Die Ängste, die unter dem Alltagslärm verborgen liegen. Doch genau dort, in der Abwesenheit von Stimmen und Blicken, kann Heilung beginnen.

 

Wer den Geistern begegnen will, muss sich aus dem Kollektiv lösen. Muss aus-der-Welt-fallen, wie es oft heißt. Die Trennung ist notwendig. Denn erst im Abstand wird klar, was Eigenes und was Fremdes ist. Und erst wenn ich mich selbst wieder hören kann, kann ich auch die leisen Stimmen der Natur, der Ahnen und der Spirits wahrnehmen.

 

Das Alleinsein ist eine Einladung zur inneren Begegnung. Es ist ein Ruf. Ein Spiegel. Eine Schwelle. Nicht leer – sondern voll. Voller Atem. Voller innerer Stimmen. Voller Erinnerung und Hoffnung. Voller Begegnung mit dem Unausgesprochenen. Es ist ein Ort, an dem das Ego langsam verstummt und das Selbst zu sprechen beginnt.

 

Der Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein liegt nicht in der äußeren Situation – sondern in der inneren Haltung.

Wenn ich allein bin und mich selbst liebe, bin ich in mir zuhause.

Wenn ich allein bin und mich selbst verurteile, entsteht Einsamkeit.

Aber wenn ich in der Einsamkeit beginne, mich selbst zu erforschen – dann wird sie zum Tor. Ein Tor zur Heilung. Zur Tiefe. Und vielleicht zum ersten echten Kontakt mit mir selbst.

 

Alleinsein ist nicht Rückzug – es ist Rückkehr. Rückkehr zu dir. Rückkehr zu deiner Essenz. Rückkehr zu deinem inneren Feuer.

Und irgendwann, wenn du gelernt hast, in deiner eigenen Gegenwart nicht nur auszuhalten, sondern sie zu genießen – dann wirst du feststellen:



Die Welt kommt zurück zu dir.

Nicht, weil du sie suchst.

Sondern weil du dich selbst gefunden hast.

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