Was ist die Reise zu sich selbst?
Wer die Reise zu sich selbst beginnt, betritt kein fremdes Land, sondern ein lange überhörtes Flüstern, das unter der Oberfläche des Alltags wartet. Diese Reise beginnt oft nicht mit einem lauten Knall, sondern mit einem feinen Zittern, einem leisen Unbehagen oder einer Ahnung, dass etwas fehlt. Und doch: Die wirkliche Entdeckung geschieht nicht durch dramatische Umbrüche, sondern durch das Sehen – das echte, offene, wache Sehen.
Mit offenen Augen, nicht im biologischen, sondern im existenziellen Sinn, beginnt man, das Gewöhnliche als das Außergewöhnliche zu erkennen. Plötzlich ist da ein Muster im Verhalten, das sich durch das Leben zieht wie eine alte Melodie. Ein Satz, den man immer wieder sagt. Eine Reaktion, die aus einem Schmerz entspringt, der nie ganz heilen konnte. Mit offenen Augen sieht man nicht nur, was ist, sondern auch, warum es ist. Man erkennt die inneren Fäden, mit denen man sein Selbstbild gestrickt hat – manchmal aus Angst, manchmal aus Sehnsucht, manchmal aus der bloßen Notwendigkeit, zu funktionieren.
Die Welt offenbart sich dem, der sie mit Aufmerksamkeit betrachtet, in unzähligen Schichten. Ebenso verhält es sich mit dem eigenen Inneren. Mit jeder aufrichtigen Frage, jedem Moment des Innehaltens, jeder bewussten Entscheidung öffnet sich eine weitere Tür. Es sind die Feinheiten, die plötzlich sichtbar werden: Wie der Klang der eigenen Stimme sich verändert, wenn man ehrlich ist. Wie der Körper reagiert, wenn man sich selbst verrät – oder endlich die Wahrheit sagt. Wie viel Weisheit in einem stillen Moment liegt, in einem Blick, in einem Sonnenstrahl auf der Haut.
Die Selbstsuche ist keine lineare Expedition. Sie gleicht mehr einem Wandern durch Nebel, bei dem erst die Bereitschaft, zu sehen, den Nebel langsam lichten lässt. Wer dabei nicht nur nach schnellen Antworten sucht, sondern bereit ist, auch die unbequemen Wahrheiten zu betrachten, der erkennt die Kraft des genauen Hinsehens. Er sieht, wie verletzlich die eigene Geschichte ist – und wie stark.
Fokussiert betrachtet, ist die Selbstsuche nicht das Finden eines festen Kerns, sondern das Erkennen eines lebendigen Prozesses. Man entdeckt nicht das Selbst – man erkennt, dass man es immer wieder neu wird. Dass das, was man für sich hielt, oft nur ein Kompromiss war. Und dass dahinter ein tieferes, oft stilles Wesen wohnt, das sich in den Zwischenräumen offenbart: im Zögern, im Lachen, im Zweifel, in der Liebe.
Mit offenen Augen zu suchen heißt also, mit dem Herzen zu sehen.
Und in dieser Art zu sehen liegt vielleicht das größte Abenteuer – und die zärtlichste Form von Mut.
Ahoo