gdrucklieb • 6. April 2025

Der vermeintliche Irrweg

Manchemal kommt es mir vor, dass es Weg gibt, die beginnen nicht mit einem ersten Schritt, sondern mit einer Ahnung – einem kaum hörbaren Flüstern zwischen den Gedanken, das sich weder lokalisieren noch erklären lässt. Vielleicht ist es auch kein Weg im eigentlichen Sinne, sondern ein sich entziehendes Muster, ein sich aufrollender Faden, der nicht nach vorne, sondern in die Tiefe führt – dorthin, wo Zeit sich auflöst wie Salz im Wasser und das Ziel mit jedem Schritt mehr in Frage steht.


Der Schritt selbst – oft zu leise, um als Fortschritt erkannt zu werden – wird nicht gemacht, sondern geschieht. Und so schreiten wir oft nicht voran, sondern werden gegangen, getragen vom Unnennbaren, das sich weder als Absicht noch als Richtung verkleidet. Wer hier einen Anfang sucht, findet ein Echo. Wer ein Ende erwartet, wird mit einer Widerspiegelung des Anfangs konfrontiert – verändert, verzogen, verlangsamt.


Ist der Weg also ein Raum oder ein Zustand? Ist er außerhalb von uns, oder dehnt er sich erst durch unser Gehen aus – wie eine Melodie, die nur dann hörbar wird, wenn wir uns auf das Lauschen einlassen?


Vielleicht war das Ziel nie dazu gedacht, erreicht zu werden. Vielleicht ist das Ziel eine Einladung, eine Fata Morgana, nicht um uns zu täuschen, sondern um uns in Bewegung zu halten – nicht nach vorne, sondern nach innen. Denn was bewegt sich wirklich, wenn wir gehen? Sind es unsere Füße? Oder ist es unser Bild von uns selbst, das sich langsam entblättert wie ein Baum im Herbst, um im Winter der Stille endlich die Wahrheit sagen zu können?


Und wenn wir dann scheitern – oder besser: wenn das, was wir einst als Erfolg definierten, sich entzieht, in Frage stellt oder schlicht zerfällt – was genau verliert sich da? Ist es das Scheitern selbst oder nur die Idee vom Gelingen, die uns am Gehen hinderte?


In den Rissen der Pläne, dort wo die Logik bricht, schleicht sich manchmal etwas anderes ein. Eine leise Präsenz, wie ein Wind, der durch eine halb geöffnete Tür streicht – unerklärbar, und gerade deshalb so vertraut. Vielleicht ist es dort, inmitten von Desorientierung, dass der eigentliche Pfad beginnt – derjenige, der sich nicht durch äußere Wegweiser ankündigt, sondern durch das langsame Aufgeben des Wünschens, Wähnens, Wertens.


Was, wenn es gar keinen Weg gibt – nur das Wandeln selbst? Eine flüchtige Bewegung zwischen zwei Welten, die nie zur Gänze benannt werden können. Und was, wenn das Gehen selbst nicht uns gehört, sondern einem uralten Rhythmus folgt, in dessen Takt wir nur ab und an hineinzuhorchen vermögen – wie in einen Traum, den wir nicht mehr erinnern, aber noch fühlen?


Der Mensch, der sich aufmacht, verliert oft mehr, als er findet. Und dennoch: In diesem Verlust, in dieser langsamen Erosion des Alten, webt sich ein feines Licht – kaum sichtbar, und doch tröstlich. Ein Licht, das weniger beleuchtet als durchdringt. Es ist kein Ziel, das da ruft – sondern vielleicht eher das Erinnern an ein uraltes Wissen, das in uns ruht, aber nur im Umweg wachgeküsst werden kann. Denn der direkte Pfad ist selten der tiefste. Wahrheit findet sich nicht in der Eindeutigkeit, sondern im Vielsinn, im scheinbaren Widerspruch, in der leisen Paradoxie des Lebens selbst.

Und so wird aus dem Weg ein Spiegel, aus dem Spiegel ein Lehrer, aus dem Lehrer ein Rätsel – und aus dem Rätsel eine Einladung. Nicht zur Lösung, sondern zur Präsenz.


Die alten Mystiker sagten: „Nur wer sich verliert, kann gefunden werden.“ Doch wer findet wen? Und ist das Finden nicht vielleicht nur ein weiterer Schleier, der das eigentliche Sehen noch verdeckt?

Vielleicht ist der Weg keine Linie, sondern ein Kreis, kein Ort, sondern ein Zustand. Vielleicht ist jeder Stein, über den wir stolpern, eine Erinnerung daran, dass der Boden, auf dem wir zu stehen glauben, nie fest war, sondern ein schwebender Zwischenraum – gehalten nicht von Sicherheit, sondern von Vertrauen.


Vertrauen in das Ungeplante. Das Fragmentarische. Das Nicht-Wissen.

Und so wird jede Erfahrung – sei sie Aufstieg oder Fall, Klarheit oder Nebel – ein Fragment eines größeren Mosaiks, das sich erst dann zeigt, wenn wir aufhören, es fertigstellen zu wollen.

In diesem Mosaik gibt es kein Oben und Unten. Kein Richtig und Falsch. Nur Farben, nur Linien, nur Tiefe.

Und vielleicht – nur vielleicht – ist genau das der Sinn:


Nicht zu erreichen. Sondern zu erinnern.


Nicht zu verstehen. Sondern zu verweilen.


Nicht zu urteilen. Sondern zu lauschen.



Auf den Weg.


Auf das Leben.


Auf das, was dazwischen ist.


Ahoo

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