Gunnar Drucklieb • 31. Juli 2025

Carlos Castanedas Montagepunkt, der Punkt, an dem die Welt beginnt.

Manchmal, in einem einzigen Moment, verändert sich alles. Ein Geruch aus der Kindheit, ein Blick in fremde Augen oder ein plötzliches Begreifen. Die Welt bleibt gleich – und doch ist sie nicht mehr dieselbe.


Carlos Castaneda nannte diesen Bruch im Gewebe der Wahrnehmung die Verschiebung des Montagepunkts. Ein seltsames, fast technisches Wort für eine zutiefst mystische Erfahrung: Die Erkenntnis, dass das, was wir Welt nennen, kein festes Außen ist – sondern ein montiertes Bild. Zusammengesetzt, gefiltert, fokussiert. Und dass dieser Fokus verschiebbar ist. Nicht willkürlich. Aber möglich.


Was ist dieser Montagepunkt?


Stell dir vor, deine Wahrnehmung sei eine Linse. Ein leuchtender Punkt im Energiefeld deines Wesens. Und dieser Punkt bestimmt, wie du die Welt zusammensetzt – was du siehst, was du fühlst, was du für real hältst. Er ist der Projektor deiner Wirklichkeit. Nicht die Welt bestimmt, was du erfährst – sondern wo in deinem Feld du gerade bist. Der Montagepunkt ist der stillschweigende Baumeister deiner Realität. Und solange er an seiner gewohnten Stelle sitzt, bist du, wer du zu sein glaubst. Ein Mensch mit Geschichte, mit Namen, mit Schmerzpunkten, Routinen, Glaubenssätzen. Doch wenn er sich verschiebt – auch nur ein Stück – verändert sich alles. Nicht weil etwas passiert, sondern weil du anders siehst. Anders bist.


Bewußtes Handeln


Die Schaman*innen der alten Linien, so berichtet Castaneda, verbrachten ihr Leben damit, die Position dieses Punktes bewusst zu verschieben. Nicht aus Neugier, nicht als Spiel – sondern aus Notwendigkeit. Denn um das Unsichtbare zu berühren, das Heilige zu schauen, muss man die alte Welt loslassen. Nicht die Welt selbst – sondern den Blick, der sie festnagelt.


Die Verschiebung des Montagepunkts ist kein Trick. Sie ist ein Tod. und damit ein Sterben der gewohnten Form. Ein Loslassen des Bekannten und zugleich: ein Geborenwerden in das Mögliche. Wenn sich der Punkt verschiebt, wird aus Angst Ehrfurcht. Aus Schmerz wird Initiation.  Aus Grenze wird Raum.


Warum ist das wichtig?


Weil wir zu oft glauben, wir wären, was wir sehen. Was wir fühlen, denken, erinnern. Doch all das ist nicht das Wesen – sondern die Perspektive. Und die Perspektive ist verschiebbar.


Was, wenn dein Leid nicht die Wahrheit ist, sondern die Folge eines fixierten Montagepunkts? Was, wenn du in einem inneren Winkel lebst, aus dem heraus du nur Bruchstücke siehst? Was, wenn deine Freiheit nicht darin liegt, mehr zu haben, sondern anders zu schauen?

Castaneda würde sagen: Du bist nicht dein Ich. Du bist nicht deine Geschichte. Du bist das Bewusstsein, das montiert. Und das – wenn es den Mut hat – neu montieren kann.


Die spirituelle Bedeutung dieser Erkenntnis ist gewaltig.


Denn wenn unsere Realität ein montiertes Konstrukt ist – dann sind unsere Grenzen nur scheinbar. Dann ist der Tod nicht das Ende, sondern ein Fenster. Dann ist Angst ein Wächter, der uns prüft, bevor wir durch das Tor gehen. Dann ist jeder schamanische Zustand, jede Vision, jjede nicht-alltägliche Realität keine Halluzination – sondern eine Verschiebung. Kein Eskapismus, sondern eine Erweiterung. Ein Blick durch ein anderes Auge.


Der spirituelle Krieger, sagt Castaneda, ist nicht derjenige, der siegt – sondern derjenige, der sieht.


 Nicht durch Argumente und nicht durch Analysen, sondern durch Stille. Durch Erfahrung. Durch den Mut, das Bekannte zu verlieren. Denn die Verschiebung des Montagepunkts ist immer ein Risiko. Du weißt nicht, was du sehen wirst. Du weißt nicht, wer du dann sein wirst.  Vielleicht wirst du Dinge erkennen, die du nicht mehr nicht wissen kannst. Vielleicht wirst du dich selbst im Licht sehen – oder im Schatten.  Und vielleicht wirst du erkennen, dass beides du bist. Und keines.


Castanedas Werk ist voller Rätsel, Widersprüche, Herausforderungen.


Doch eines bleibt klar. Wer sich auf diese Reise einlässt, betritt keinen Weg der Sicherheit, sondern einen Weg der radikalen Ehrlichkeit. Du kannst deinen Montagepunkt verschieben durch extreme Erfahrungen:


Durch Dunkelheit.
Durch Ekstase.
Durch Schmerz.
Durch absolute Stille.
Durch Atem.
Durch Trance.
Durch Schamanismus.


Und wenn es geschieht – weißt du es. Denn dann ist nichts mehr, wie es war. Die Welt wirkt frischer, lebendiger, flüssiger. Du erinnerst dich.  Nicht an ein Ereignis – sondern an einen Zustand. Du erinnerst dich daran, dass du mehr bist. Dass du nicht die Welt bist, die du siehst, sondern das, was sieht.


Und in dieser Erkenntnis liegt ein leiser Trost.


Denn wenn alles montiert ist, dann ist auch Heilung möglich. Dann ist der Schmerz veränderbar und dann ist die Wirklichkeit nicht gefroren, sondern atmend. Carlos Castaneda hat uns kein Dogma hinterlassen. Er hat uns kein System gegeben. Er hat uns eher ein Mysterium überreicht, und die Einladung, es zu bewohnen.


Der Montagepunkt ist kein Konzept für den Kopf. Er ist ein Ruf an die Seele. Ein Flüstern: "Du kannst sehen, was du nicht zu sehen glaubst. Du kannst sein, was du nie zu sein wagtest. Aber du musst den Mut haben, den Punkt zu bewegen, an dem die Welt beginnt. Und vielleicht – nur vielleicht – beginnt sie dann wirklich".

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