Das verbotene Wort
Es gibt Worte, die tragen. Worte, die wärmen wie eine Tasse Tee in einer kalten Nacht. Worte, die uns ein Zuhause geben inmitten all der inneren Wirbelstürme. Und dann gibt es Worte, die wir meiden. Nicht, weil sie falsch wären – sondern weil sie zu wahr sind. Zu direkt. Zu nackt. Man spürt sie eher, als dass man sie hört. Ein Unbehagen. Ein leichtes Ziehen irgendwo im Körper. Ein Moment des Innehaltens, wenn alles eigentlich „gut“ sein sollte.
Vielleicht kennst du das:
Du kommst aus einer Meditation – friedlich, klar – und trotzdem ist da ein Kloß im Hals.
Du hast gerade ein wunderschönes Mantra gesungen – und merkst, dass deine Schultern noch immer hart wie Stein sind.
Du hast jemandem vergeben – aber dein Körper atmet flach, und dein Kiefer ist angespannt, als hätte er etwas zurückgehalten.
Und du fragst dich: Warum ist das noch da?
Zwischen Licht und Schatten
Wir leben in einer Zeit, in der Spiritualität zugänglicher geworden ist als je zuvor. Wir reisen zu Kraftorten, wir machen Visionssuchen, wir lesen Bücher über Schattenarbeit, innere Kinder, Ahnenlinien, Frequenzen, Portaltage und planetare Heilung. Und vieles davon ist wertvoll. Vieles davon berührt uns wirklich.
Doch manchmal…
manchmal liegt zwischen all dem auch eine feine Schicht Nebel.
Ein kaum merklicher Schleier.
Wir sprechen von Heilung – und meinen manchmal das Nicht-Spüren.
Wir sagen Loslassen – und meinen Verdrängen.
Wir wollen höher schwingen – aber es zieht uns heimlich nach unten, zurück zu dem, was wir nicht fühlen wollten.
Und das ist kein Scheitern. Es ist menschlich.
Der Körper spricht zuerst
Bevor dein Verstand etwas versteht – spürt dein Körper es schon.
Er spannt sich an, wenn etwas nicht stimmt.
Er zuckt, wenn eine Wahrheit sich ihren Weg bahnt.
Er friert ein, wenn ein alter Schmerz unbemerkt die Bühne betritt.
Er weint manchmal – ohne dass du weißt, warum.
Während du in Zeremonien sitzt, still und ehrfürchtig, klopft es vielleicht leise im Bauch.
Während du atmest, vibriert etwas im unteren Rücken.
Während du dich „frei“ fühlst, zieht sich dein Becken zusammen.
Der Körper ist kein Werkzeug.
Er ist ein Gefährte.
Ein ehrlicher Zeuge dessen, was in dir wirklich geschieht.
Und oft ist er es, der zuerst merkt, wenn etwas umgangen wird.
Das Umgehen hat viele Gesichter
Manche nennen es „spirituelle Reife“, wenn sie nicht mehr wütend werden. Manche sagen „Ich bin schon durch damit“ – und meinen „Ich möchte da bitte nicht noch mal hin“. Manche schreiben über Schattenarbeit – und meiden doch das Gespräch mit dem eigenen Vater.
Man kann durch hundert schamanische Reisen gehen – und dennoch dem einen Gefühl ausweichen, das sich hartnäckig weigert, integriert zu werden. Man kann stundenlang meditieren – und doch in keiner Sekunde wirklich da sein. Und manchmal sind es gerade die, die am tiefsten im spirituellen Feld stehen, die am geschicktesten darin geworden sind, sich selbst zu täuschen.
Nicht bewusst.
Nicht aus Lüge.
Sondern aus Sehnsucht.
Nach Leichtigkeit. Nach Ankommen. Nach innerem Frieden.
Die stille Einladung zur Ehrlichkeit
Wenn du beim Lesen einen leichten Druck im Brustkorb spürst – bleib.
Wenn du das Gefühl hast, der Text spricht über dich – atme.
Wenn du spürst, dass du dich ein wenig ertappt fühlst – sei sanft mit dir.
Denn dieser Text ist kein Urteil. Er ist eine Einladung. Eine zarte, ruhige Hand auf deiner Schulter, die dir sagt: Schau noch mal hin. Ganz ehrlich. Ganz zärtlich.
Denn vielleicht…
liegt gerade hinter dem, was du am meisten vermeidest, die größte Tür.
Und nun: Das Wort
Du hast es wahrscheinlich längst gespürt.
Es hat sich durch die Zeilen geschlichen. Zwischen Kiefer und Brustkorb. Zwischen Schattenarbeit und Schulterverspannung. Zwischen Vergebung und innerer Unruhe. Jetzt kommt es ans Licht. Nicht als Anklage – sondern als Schlüssel.
Bypassing - Spirituelles Umgehen.
Es passiert, wenn wir Spiritualität nutzen, um dem Leben auszuweichen. Wenn wir Licht über das legen, was eigentlich gehalten werden will. Wenn wir Wissen statt Weisheit sammeln. Wenn wir Transformation wollen – aber nicht leibhaftig verkörpern. Es passiert, wenn der Körper schreit – und wir „Om“ sagen. Wenn der Schmerz spricht – und wir ihn energetisch deuten. Wenn wir spirituelle Sprache verwenden – um nicht fühlen zu müssen, was längst in uns ruft.
Was jetzt?
Vielleicht nichts. Vielleicht alles.
Vielleicht liest du diese Zeilen und zuckst mit den Schultern. Oder vielleicht wird es heute Nacht in dir nachklingen – wie ein Ruf, der langsam seinen Weg durch dich bahnt. Wenn ja – dann öffne dich. Nicht nach oben. Sondern nach innen. Nach unten. Zum Körper. Zum Schatten. Zur Geschichte, die du nicht mehr erzählen wolltest.
Denn genau da beginnt sie wieder:
Die ehrliche, verletzliche, geerdete Spiritualität.
Die nicht blendet – sondern berührt.
Die nicht ausweicht – sondern einlädt.
Vielleicht ist das verbotene Wort kein Urteil.
Sondern ein leiser Hinweis.
Darauf, dass du bereit bist.
Bereit, wirklich zu fühlen.
Bereit, wirklich zu sein.
Bereit, nichts mehr zu umgehen.