Gunnar Drucklieb • 20. August 2025

Der Mensch als Weltenbaum – Körper, Psyche und Seele als Kosmos

Im Schamanismus und in vielen alten Mythen begegnet uns der Weltenbaum als Symbol der Verbindung: Er durchdringt Himmel, Erde und Unterwelt, er ist Wurzel, Stamm und Krone zugleich, und in ihm fließen die Ströme des Lebens zwischen den Welten.

Wenn wir den Menschen selbst als Weltenbaum verstehen, dann ist er nicht nur ein Teil der Schöpfung, sondern eine lebendige Miniatur des Kosmos. Alles, was im Universum existiert, lebt auch in ihm – verdichtet in der Achse seiner Seele, seiner Psyche und seines Körpers.


Die Wurzeln – die Unterwelt in uns

Die Wurzeln reichen tief hinab in den dunklen Boden.

  • Psychologisch sind dies unsere Instinkte, Urängste, unsere Kindheit, das Unbewusste.
  • Spirituell sind es die Ahnen, die Krafttiere, die Verbindung zum Schoß der Erde, in dem alles Leben geboren wird.
  • Körperlich liegen hier Becken, Beine und Füße – das Fundament, das uns trägt.

In den Wurzeln lebt das Wilde, das Ungezähmte, das Dunkle – aber auch die Nahrung, die uns versorgt. Ohne diese Wurzeln wäre der Baum nicht standhaft. Ohne unsere seelischen Tiefen gäbe es kein Wachstum nach oben.


Der Stamm – die mittlere Welt

Der Stamm ist das Zentrum, die Brücke.

  • Psychologisch ist er das Ich, die Persönlichkeit, das Bewusstsein, das zwischen Vergangenheit und Zukunft balanciert.
  • Spirituell ist er die mittlere Welt, das alltägliche Leben, in dem wir wirken, sprechen, lieben, arbeiten und gestalten.
  • Körperlich entspricht er dem Rumpf: Herz, Atem, Hände – der Raum, in dem wir handeln.

Im Stamm treffen die Kräfte der Wurzeln und der Krone aufeinander. Er ist der Ort des Gleichgewichts, wo Tiefe und Höhe sich berühren.


Die Krone – die obere Welt

Die Krone breitet sich aus in den Himmel.

  • Psychologisch sind das unsere Visionen, Ideale, Gedanken, Träume und Archetypen.
  • Spirituell ist es die obere Welt, in der wir den Ahnen des Lichts, den Sternenwesen, den Göttern oder geistigen Führern begegnen.
  • Körperlich liegt hier Kopf, Gehirn und feinstoffliche Zentren über dem Scheitel.

Die Krone empfängt das Licht, die Inspiration, das Geistige – so wie wir Eingebungen, Intuition und transzendente Erfahrungen empfangen.


Der Baum als Achse der Seele

Wenn wir alles zusammendenken, dann wird der Mensch selbst zur Axis Mundi, zum Nabel der Welt:

  • Der Körper ist nicht getrennt von der Psyche, die Psyche nicht getrennt von der Seele.
  • Alles ist in einer lebendigen Achse verbunden, die ständig zwischen den Welten pendelt.

So kann man sagen: Die Seele ist der Baum, die Psyche sein Stamm, und der Körper seine Wurzeln und Äste.
Oder umgekehrt:
Der Körper ist die Erde, die Psyche das Holz, die Seele das Licht.


Der Weltenbaum als Landkarte innerer Reisen

In schamanischen Reisen steigen wir oft wie Schlangen oder Vögel am Weltenbaum auf oder klettern hinab in seine Wurzeln. Übertragen auf den Menschen bedeutet das: Jede innere Reise durch Traum, Meditation oder Schamanismus ist zugleich eine Wanderung durch die Schichten unserer eigenen Existenz.

  • Wer in die Wurzeln steigt, begegnet den Schatten, aber auch den Ahnenkräften.
  • Wer in den Stamm tritt, begegnet den Aufgaben des Alltags, den Spannungen zwischen Pflicht und Sehnsucht.
  • Wer in die Krone steigt, begegnet Visionen, Ahnungen, spirituellen Lehrern.

Der Weltenbaum in uns ist damit eine innere Landkarte, die uns erlaubt, uns selbst als mehrdimensionales Wesen zu erfahren.


Psychologische Deutung

Aus Sicht der Tiefenpsychologie kann man den Weltenbaum mit dem Selbst (im jungianischen Sinn) gleichsetzen – dem Zentrum der Psyche, das alle Gegensätze in sich vereint.

  • Die Wurzeln sind das Unbewusste.
  • Der Stamm ist das Ich-Bewusstsein.
  • Die Krone sind die Archetypen und kollektiven Bilder.

Die Schamanen haben so, lange bevor Psychologie entstand, ein Bild geschaffen, das uns zeigt: Der Mensch trägt Himmel und Erde zugleich in sich.


Der Mensch als heiliger Baum

Wenn man diesen Gedanken radikal ernst nimmt, bedeutet das:

  • Wer einem Menschen begegnet, begegnet einem heiligen Baum.
  • Jede Verletzung – körperlich oder seelisch – ist ein Schnitt in diesen Baum.
  • Jede Heilung ist ein neues Austreiben von Blättern, ein neues Verwurzeln.

Darum achten Schaman*innen so sehr auf die Einheit von Körper, Psyche und Seele. Nicht weil sie ein theoretisches Modell im Kopf haben, sondern weil sie den Menschen tatsächlich als Weltenbaum erleben.


Die Konsequenz

Dieser Gedanke verändert auch, wie wir auf uns selbst blicken:

  • Wir sind nicht nur „jemand“, der in der Welt lebt.
  • Wir sind die Welt – in einer verdichteten, lebendigen Gestalt.
  • Der Weltenbaum in uns wächst und stirbt mit uns, aber er ist zugleich uralt und ewig, weil er ein Abbild des kosmischen Baumes ist.


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