Gunnar Drucklieb • 24. August 2025

Liebe aus schamanischer Sicht

Liebe – ein Wort, so klein, und doch ein Ozean aus Bedeutungen, Erfahrungen, Hoffnungen und Wunden. Aus schamanischer Sicht ist Liebe nicht nur ein Gefühl, das sich zwischen zwei Menschen abspielt, sondern eine Kraft, die durch alle Ebenen des Seins fließt. Sie ist weder exklusiv noch exklusiv definierbar. Sie gehört nicht dem Heteropaar, nicht dem traditionellen Eheverständnis, nicht einer religiösen Doktrin – sie gehört dem Leben selbst.


In den alten Lehren der Schaman*innen wird Liebe als ein Band verstanden, das alles miteinander verbindet. Sie ist nicht nur eine Emotion, sondern eine Substanz, ein Stoff, aus dem das Netz der Welt gewebt ist. Dieses Band existiert zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Tier, Mensch und Erde, Mensch und Geistwesen – und in all seinen Formen ist es gleichwertig. Liebe ist nicht begrenzt auf Romantik oder Sexualität, sie ist in einer tiefen Freundschaft genauso heilig wie in einer leidenschaftlichen Partnerschaft.


Liebe in ihrer Vielfalt


Die schamanische Sicht kennt keine Grenzen, wenn es um die Anerkennung der Formen von Liebe geht. Sie kennt die Liebe zwischen Mann und Frau, genauso wie die zwischen Mann und Mann, Frau und Frau oder zwischen Menschen, die sich jenseits der binären Geschlechterlogik bewegen. Es gibt Seelen, deren Wesen nicht in die Schubladen „männlich“ oder „weiblich“ passen – und auch ihre Liebe ist nicht weniger wertvoll, nicht weniger rein, nicht weniger echt.


Wer aus spiritueller Sicht wirklich in der Liebe steht, weiß: Liebe fragt nicht nach der Form des Körpers, nicht nach der Zuordnung in amtlichen Papieren, nicht nach der gesellschaftlichen Norm. Sie fragt nur: Ist hier ein Herz, das fühlt? Ist hier eine Seele, die berührt wird?


Freundschaft als Form der Liebe


Freundschaft ist eine oft unterschätzte Form der Liebe. In vielen schamanischen Kulturen gilt eine tiefe Freundschaft als eines der reinsten und haltbarsten Bänder, die zwischen Menschen existieren können. Freundschaft trägt oft ohne Besitzanspruch, ohne Erwartung an körperliche Erfüllung, ohne den Druck gesellschaftlicher Verpflichtungen. Sie ist ein stiller Garten, in dem Vertrauen wächst, ein Ort, an dem man sein darf, wie man ist.


Schamanisch betrachtet ist Freundschaft sogar ein spiritueller Vertrag. Zwei Seelen begegnen sich und sagen zueinander: „Ich erkenne dich. Ich halte dich in deinem Licht und in deinem Schatten.“ Freundschaft ist Liebe in ihrer freiesten Form, weil sie nicht an romantische Exklusivität gebunden ist.


Die Feinde der Liebe


Und doch gibt es Menschen und Strömungen, die meinen, die Liebe anderer kontrollieren oder gar verbieten zu dürfen. Rechte, konservative und extremistische Kräfte stellen sich gegen diese Vielfalt. Sie versuchen, ihre engen Definitionen der Liebe der gesamten Gesellschaft aufzuzwingen. Sie marschieren gegen den Christopher Street Day, verurteilen queere Beziehungen, wollen uns einreden, dass nur eine Form der Liebe „natürlich“ sei.

Aus schamanischer Sicht ist das nicht nur eine politische oder soziale Fehlhaltung – es ist ein Bruch mit dem heiligen Netz des Lebens. Wer anderen ihre Liebe abspricht, schneidet Fäden in diesem Netz durch. Und jedes durchtrennte Band macht die Welt kälter, enger, ärmer.


Die Wunde der Lieblosigkeit


Doch nicht nur das Verbot von Liebe verletzt. Noch tiefer greift die Erfahrung, selbst niemals wirklich Liebe empfangen zu haben. Wer als Kind keine Wärme, keine Anerkennung, keinen liebevollen Blick erfahren hat, trägt eine Wunde in sich, die das ganze Leben beeinflussen kann. Diese Wunde kann zu Härte, zu Misstrauen, zu dem Glauben führen, dass Nähe gefährlich sei.


Schamanisch betrachtet ist dies eine Form von Seelenverlust. Ein Teil des Selbst zieht sich zurück, um nicht ständig den Schmerz der Lieblosigkeit zu fühlen. Solange dieser Teil nicht zurückgeholt wird, kann die Fähigkeit, Liebe zu geben und zu empfangen, blockiert sein.


Doch hier liegt auch die Chance der Heilung: Liebe kann nachgenährt werden. Nicht nur durch romantische Beziehungen, sondern durch Freundschaft, Gemeinschaft, die Verbindung zur Natur, den Kontakt zu Tieren, durch Rituale, in denen man sich selbst in den Armen hält, wie es einst niemand tat.


Liebe als Medizin


Liebe – in all ihren Formen – ist die stärkste Medizin, die wir kennen. Sie heilt, wo Worte nicht reichen. Sie öffnet Türen, die wir lange verriegelt hielten. Sie lässt uns sehen, dass wir Teil von etwas Größerem sind. Schaman*innen arbeiten oft genau mit dieser Kraft. Sie rufen die Ahnen, die Erde, die Elemente an, um Menschen zu zeigen: „Du bist geliebt. Du warst es immer. Auch wenn es dir nie gesagt wurde.“ Sie erinnern uns daran, dass Liebe kein Privileg ist, das man sich verdienen muss – sie ist ein Geburtsrecht.


Und vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis: Liebe gehört niemandem allein. Sie gehört allen. Sie ist kein Besitz, sondern ein Fluss, und je mehr wir ihn teilen, desto stärker wird er.


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