Der Vagusnerv – Schlüssel zur inneren Balance und seine schamanische Dimension
Es gibt in unserem Körper Orte, die fast geheimnisvoll wirken, weil sie so viel Macht über unser Befinden haben und doch so unscheinbar erscheinen. Einer dieser Orte ist der Vagusnerv. Er zieht sich wie ein unsichtbarer Faden durch unseren Organismus und wirkt als Brücke zwischen Körper, Geist und Seele. Wer ihn versteht, berührt die Wurzeln unseres inneren Gleichgewichts. Wer ihn schamanisch anspricht, öffnet Türen zu Heilung, Transformation und einem tieferen Bewusstsein.
Der Vagusnerv – Anatomie eines Lebensnervs
Der Vagusnerv ist der zehnte Hirnnerv und zugleich der längste des gesamten Nervensystems. Er entspringt im Hirnstamm, zieht durch Hals und Brust bis tief in den Bauchraum und verzweigt sich dabei zu Herz, Lunge, Magen, Darm und sogar zu Teilen des Gesichtes und der Stimme. Sein Name stammt aus dem Lateinischen: vagus bedeutet „der Umherschweifende“ – und tatsächlich durchstreift er nahezu den gesamten Körper.
Er ist der Hauptakteur des parasympathischen Nervensystems, also jenes Systems, das für Ruhe, Regeneration und Heilung zuständig ist. Während der Sympathikus uns in Kampf- oder Fluchtreaktionen versetzt, sorgt der Vagusnerv für Entspannung, Verdauung, tiefe Atmung und Heilprozesse. Er ist damit wie eine geheime Schaltstelle zwischen Stress und Gelassenheit, zwischen Krankheit und Gesundheit.
Polyvagal-Theorie – Landkarte unserer inneren Zustände
Die moderne Neurowissenschaft, vor allem durch die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges, hat den Vagusnerv in den Mittelpunkt einer neuen Sichtweise gerückt. Diese Theorie unterscheidet zwischen drei Hauptzuständen:
- Sympathikus-Aktivierung – Flucht oder Angriff
Dies ist der bekannte Stressmodus. Das Herz schlägt schneller, die Atmung wird flach, Muskeln spannen sich an. Unser Körper bereitet sich darauf vor, etwas zu tun – rennen oder kämpfen. - Ventraler Vagus – Sicherheit, soziale Verbindung, Ruhe
„Ventral“ bedeutet „bauchwärts“ bzw. „nach vorne gerichtet“. Der ventrale Ast des Vagusnervs entspringt im vorderen Hirnstamm. Er steuert Funktionen, die mit Sicherheit und Verbindung zu tun haben: entspannte Mimik, ruhiger Herzschlag, tiefe Atmung, Offenheit für Nähe, Kommunikation und Vertrauen. Wenn der ventrale Vagus aktiv ist, fühlen wir uns geerdet, geborgen und in Kontakt – mit uns selbst und mit anderen. - Dorsaler Vagus – Erstarrung, Rückzug, Schock
„Dorsal“ bedeutet „rückenwärts“. Der dorsale Ast liegt tiefer im Hirnstamm und ist evolutionär älter. Wird er stark aktiviert, kann er eine Art Notabschaltung im Körper auslösen: Herzschlag verlangsamt sich, Verdauung fährt herunter, der Organismus schützt sich durch Lähmung. Menschen erleben diesen Zustand als Leere, Taubheit oder Erstarrung – vergleichbar mit einem Tier, das sich totstellt.
Man könnte sagen:
- Der ventrale Vagus öffnet uns in die Welt hinein – Vertrauen, Beziehung, Kommunikation.
- Der dorsale Vagus zieht uns aus der Welt zurück – Schutz, Rückzug, Erstarrung.
- Der Sympathikus treibt uns mitten hinein – Aktivität, Kampf, Flucht.
Diese drei Mechanismen sind nicht „gut“ oder „schlecht“. Sie sind Überlebensstrategien. Doch das Wissen um sie hilft uns, bewusster zu erkennen, in welchem Zustand wir gerade sind – und welche Wege uns zurück ins Gleichgewicht führen.
Schamanische Perspektive – Der Vagus als Seelenfaden
In der schamanischen Weltsicht ist der Körper niemals nur Biologie. Er ist ein lebendiger Tempel, durchzogen von Kanälen, in denen nicht nur Nervenimpulse, sondern auch Lebensenergie, Geistkraft und Seelenschwingung fließen. Der Vagusnerv kann in dieser Sichtweise als eine Ader des Lebensgeistes verstanden werden – ein schwingender Faden, der unsere innere und äußere Welt verbindet.
Während die Wissenschaft ihn als biologischen Nervenstrang beschreibt, erkennen Schaman*innen im Vagus auch ein spirituelles Band:
- Er verbindet den Atem mit dem Herzschlag.
- Er verbindet die Stimme mit der Seele.
- Er verbindet die Mitte des Körpers mit dem Bewusstsein.
Man könnte sagen: Der Vagus ist der „Nerv des Schamanen“, weil er uns direkt an die Schwelle führt, wo Körper, Geist und Seele sich berühren.
Wie man den Vagusnerv reguliert – moderne Ansätze
Es gibt viele Möglichkeiten, den Vagusnerv zu aktivieren und so Heilung und Ruhe einzuladen. Einige bekannte Methoden sind:
- Tiefes, langsames Atmen – besonders durch den Bauch.
- Summen, Singen, Tönen – da der Nerv auch mit Kehlkopf und Stimme verbunden ist.
- Kälte – z. B. kaltes Wasser im Gesicht oder Eisbäder.
- Sanfte Bewegung – Yoga, Qi Gong oder schamanischer Tanz.
- Soziale Nähe – tiefer Blickkontakt, Berührung, Umarmung.
Doch über diese körperlichen Wege hinaus öffnet sich im Schamanismus eine weitere Dimension.
Schamanische Arbeit mit dem Vagusnerv
1. Der Atem als Brücke
In schamanischen Zeremonien spielt der Atem eine zentrale Rolle. Durch bewusstes, rhythmisches Atmen – begleitet von Trommel oder Rassel – lässt sich der Vagus aktivieren. Jeder Atemzug wird zum Gebet, das den Körper beruhigt und die Seele in eine andere Wirklichkeit führt.
Ritualidee: Setze dich in den Kreis, lausche der Trommel und atme bewusst tief durch die Nase ein, durch den Mund aus. Spüre, wie der Atem durch Kehle, Brust und Bauch zieht und dabei wie ein heiliger Wind den Vagusnerv streichelt.
2. Stimme als Heilwerkzeug
Der Vagus ist eng mit der Stimme verbunden. In vielen Traditionen wird durch Singen, Summen oder Kehlgesänge Heilung angestoßen. Der Ton bringt den Nerv in Schwingung – und die Seele in Resonanz.
Ritualidee: Summe den Klang „OM“ oder einen eigenen Seelenton, so lange, bis du die Vibration im Brustkorb und im Bauch spürst. Rufe dein Krafttier oder deine Ahnen an und bitte sie, den Klang mit dir zu tragen.
3. Trommel und Herzschlag
Der Vagus reguliert auch das Herz. Wenn die Trommel im gleichmäßigen Rhythmus schlägt, spiegelt das Herz diesen Rhythmus. Das Nervensystem gleicht sich an – eine Resonanz, die Körper und Seele beruhigt.
Ritualidee: Lege dich im Kreis hin, während eine Trommel im gleichmäßigen Herzschlag-Rhythmus gespielt wird. Spüre, wie dein eigenes Herz in Einklang kommt und wie der Vagus den Impuls weiterträgt in die Tiefe deines Körpers.
4. Schamanische Reisen zum inneren Nervensystem
In einer schamanischen Reise kann der Vagus als spirituelles Wesen erscheinen – vielleicht als Schlange, als Wurzel oder als Fluss. Man kann mit ihm sprechen, ihn bitten, Blockaden zu lösen, oder sich von ihm an die Orte der eigenen inneren Ruhe führen lassen.
Ritualidee: Gehe auf eine Trommelreise mit der Intention: „Zeige mir den Weg meines Vagus.“ Schaue, in welcher Gestalt er dir begegnet, und höre seine Botschaft.
5. Der Körper als Ritualraum
In schamanischen Heilungen wird der Körper als ein Land betrachtet, das durchwandert werden kann. Der Vagusnerv kann dabei als heiliger Pfad verstanden werden – vom Kopf in die Tiefe des Bauches, vom Geist in die Körperseele.
Ritualidee: Stelle dir bei einer Meditation vor, wie du den Vagus hinabsteigst wie einen schimmernden Fluss. Auf diesem Weg kannst du Spannungen loslassen, Licht einladen und die Balance zwischen Kopf und Herz finden.
Fazit – Der Vagus als Tor zur Heilung
Der Vagusnerv ist mehr als ein medizinischer Begriff. Er ist eine heilige Brücke. Auf der körperlichen Ebene ist er ein Schlüssel zu Heilung und Resilienz, auf der seelischen Ebene ein Kanal, durch den wir Ruhe, Vertrauen und innere Weite finden.
Schamanische Praxis macht diesen Nerv erfahrbar als spirituellen Strom, als Lebensader, die uns mit Atem, Stimme, Herz und Bauch verbindet. Wer den Vagusnerv ehrend anspricht – mit Atem, Klang, Trommel oder Vision – betritt eine Sphäre, in der Heilung nicht nur physiologisch, sondern auch seelisch geschieht.
Der Vagus lädt uns ein, uns zu erinnern: Dass wir nicht nur Körper sind, nicht nur Geist, sondern eine Einheit aus beiden – getragen von einem unsichtbaren Faden, der uns in die Mitte führt.